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Digitale Plattformen Teil IV: Das Chicken-Egg Problem

  • Writer: Jürgen Rösch
    Jürgen Rösch
  • Jul 17, 2021
  • 5 min read

Im vierten Teil unserer Mini-Blogserie über digitale Plattformen beschäftigen wir uns mit dem Chicken-Egg Problem und der kritischen Masse. Wie bekommt man die Plattform vom Boden? Wie schafft man es, eine Dynamik wie auf den großen Plattformen zu erzeugen? Wenn es ein Thema gibt, das uns bei Schulungen und Beratungsprojekten am häufigsten begegnet, dann ist es das Chicken-Egg-Problem. Ein Teil der Lösung findet sich bereits in Teil III unserer Serie (hier). Der andere Teil ist weniger einfach als sich das viele Plattform-Start-Ups wünschen: es braucht Zeit, Durchhaltevermögen und den Willen, zu experimentieren.


Nutzer digitaler Plattformen profitieren von wertvollen Interaktionen. Je mehr und je öfter sie mit anderen Teilnehmern interagieren können, desto wertvoller ist die Plattform für sie. Das bedeutet für die digitale Plattform, dass sie zunächst möglichst viele Teilnehmer auf die Plattform „locken“ (pull), sie richtigen miteinander verbinden (match) und die Interaktionen zwischen den Teilnehmern vereinfach muss (facilitate)*. Das bedeutet dementsprechend auch, dass die digitale Plattform erst dann wertvoll für Teilnehmer ist, wenn auch genügend Teilnehmer einer anderen Gruppe auf der Plattform sind.



Wie viel ist genug?


In der Anfangsphase einer digitalen Plattform gibt es (oftmals) noch zu wenige mögliche Interaktionspartner. Erst wenn eine bestimmte Menge an möglichen Interaktionspartnern der anderen Nutzergruppe erreicht ist, ist die Plattform attraktiv für weitere Nutzer. Sie muss also zum Ziel haben, eine kritische Masse an Nutzern beider Nutzergruppen erreichen.


Die kritische Masse ist allerdings keine feste Größe, die man exakt berechnen muss, oder vorab genau bestimmen kann, sondern sie hängt stark von den Eigenschaften der indirekten Netzwerkeffekte der jeweiligen Plattform ab. Ein Uber-Fahrer kann mehrere Fahrgäste oder sogar Fahrgastgruppen transportieren, ein Airbnb Zimmer kann nacheinander an mehrere Gäste vermietet werden. Ein Amazon-Kunde kann bei verschiedenen Anbietern einkaufen. Es muss also nicht in jedem Fall einen 1:1-Beziehung vorliegen, vielmehr kann es auch eine 1:N- oder N:1-oder N:M-Beziehung geben.


Die kritische Masse ist daher eher eine kritische Schwelle oder eine critical mass frontier wie sie von Evans und Schmalensee in dem Buch „Matchmaker“ beschrieben wird (siehe Abbildung). Schafft es die Plattform diese kritische Schwelle zu überschreiten, ist sie in der Wachstumszone. Schafft sie es nicht, wird sie weiter vor sich hindümpeln und vielleicht so enden wie eines der unzähligen sozialen Netzwerke, auf denen sich eine Reihe von Nutzern irgendwann einmal angemeldet hat, die dann aber nie wieder zurückkehren.


Das Chicken-Egg Problem verstehen oder der Ladys-Night Effekt


Die Gründer digitaler Plattformen müssen vor allem ein zeitliches Problem lösen. In der Anfangsphase ist die Plattform noch zu unattraktiv, um selbstständig einen genügend großen Wert für viele Nutzer zu schaffen. Die Gründer der digitalen Plattform müssen es also irgendwie schaffen, den zukünftigen Wert, den die digitale Plattform einmal für die Teilnehmer schaffen wird, schon jetzt für Teilnehmer spürbar zu machen oder aber anders dafür sorgen, dass der Wert schnell zunimmt.


Diskotheken kennen das Chicken-Egg-Problem sehr gut und haben auch eine Lösung dafür parat: Bei sogenannten Ladies-Nights öffnet die Disco früher für Frauen, verspricht ihnen kostenlosen Eintritt (was einem Nullpreis entspricht) und vielleicht noch ein, zwei, drei Freigetränke (womit ein negativer Preis gesetzt wird), mit dem Ergebnis, dass um elf Uhr die Männer vor der Tür Schlange stehen, um reingelassen zu werden. Die Disco lockt die Frauen „auf“ die Plattform und wird dadurch so attraktiv für Männer, dass diese bereit sind, entsprechende Eintritts- und Getränkepreise zu zahlen. Tinder sagt man übrigens eine ähnliche Strategie nach: Eine der Gründerinnen feierte Partys in Sororities (das sind weibliche Studentenverbindungen an amerikanischen Unis) und überzeugte die Frauen davon, Tinder auszuprobieren. Kurz danach gab es eine Launch Partys bei den Fraternities (das männlichen Gegenstück zu den Sororities), bei denen die neue App mit all den süßen Mädels auf dem Campus vorgestellt wurde.


Beide Beispiele haben etwas Wichtiges gemeinsam: jedes Mal wurde mit einer bestimmten Gruppe, den Frauen, gestartet. In jedem der beiden Fälle sind die Frauen die wichtigere der beiden Gruppen. Männer profitieren stärker davon, dass Frauen in der Disco oder auf Tinder sind als umgekehrt. Das heißt aber auch, dass die digitale Plattform mit der „falschen Seite“ starten kann. Dazu eine kleine Anekdote: In einem meiner Seminare kam es zu einer längeren Diskussion, eine Teilnehmerin meinte, dass eine Disco durchaus auch mit den Jungs anfangen könnte. Ein anderer Teilnehmer antwortete, dass er sich nicht vorstellen könnte, dass Frauen darauf warten würden und bereit wären Eintritt zu bezahlen, auf eine Horde betrunkener Männer losgelassen zu werden, die sich davor einige Gläser Jacky-Cola auf Kosten des Hauses gegönnt haben. Auf alle Fälle ist davon auszugehen, dass nicht viele Discos oder Bars auf ein solches Vorgehen setzen.


Die vier Archetypen oder der Weg zur kritischen Masse


Betrachtet man die Beispiele der großen digitalen Plattformen fallen zwei Sachen auf: a.) die Lösung des Chicken-Egg-Problems war nie eine einmalige Aktion, sondern immer ein langer Weg mit vielen Experimenten, Rückschlägen und kreativen Lösungen für (teilweise enttäuschend) gescheiterte Versuche. Und b.) viele Versuche haben Gemeinsamkeiten und können in vier Archetypen eingeteilt werden**.


1. Feed-The-Chicken:


Digitale Plattformen subventionieren immer eine Nutzergruppe und verdienen mit einer anderen Nutzergruppe Geld. Besonders ausgeprägt ist diese Preisstruktur in der Anfangsphase der digitalen Plattform. Dies ist genau das Ladys-Nights-Prinzip. Wichtig dabei ist, dass die „wertvollere“ Nutzergruppe bekannt ist, sodass nicht aus Versehen betrunkene Männer in Scharen angelockt werden und die Frauen einen weiten Bogen um das Geschehen machen.


1. Put-A-Cuckoo`s-Egg-In-The-Nest


Nicht jede digitale Plattform startet als zweiseitiger Markt. Amazon startete als normaler E-Commerce Anbieter für Bücher und öffnete erst später seinen Kundenstamm für Drittanbieter. Auch Google verzichtete in den Anfangsjahren auf Werbung und konzentrierte sich ganz auf die Kern-Interaktion zwischen Suchenden und Webseiten. Und OpenTable kümmerte sich zuerst darum, den Reservierungsprozess von Restaurants zu optimieren, bevor es das System für Gäste öffnete. Manchmal entscheidet sich die Plattform also bewusst als lineares Geschäftsmodell zu starten und eine Nutzergruppen (eine Marktseite) außen vor zu lassen.


2. Hatch-Egg-By-Egg


Dieser Tipp gilt immer und für jede Plattform: Das mag kontraintuitiv zu der Netzwerkeffektlogik wirken (je mehr, desto besser), entspricht aber genau der Kern-Interaktionslogik: mach die eine Sache richtig, in einer kleinen Region, für eine beschränkte Anzahl an Leuten, mit beschränktem Angebot, arbeite solange daran, bis das perfekt funktioniert und skaliere dann. Facebook ist in Harvard gestartet, Twitter auf der SXSW Konferenz, Tinder und Airbnb setzten auf lokale Launch-Partys und auch im Apple-Appstore waren zunächst nur wenige Apps verfügbar.


Andere digitale Plattformen schränken das Angebot oder die Nachfrage in der Anfangsphase ein. Fiverr, ein Anbieter für kreative Dienstleistungen wie z.B. Logos, beschränkte das Angebot auf „alles, was fünf Dollar kostet“ also einen Fünfer (fiver in Englisch). So schaffte es die digitale Plattform die Erwartungen der Teilnehmer zu treffen: Jeder Teilnehmer wusste genau, was er für seine Dienstleistung verlangen kann oder welchen Umfang für einen Fünfer zu erwarten ist. Die digitale Plattform half den Teilnehmern so, das Koordinationsproblem zu lösen (was ist eine Dienstleistung wert? Wie viel sollte man dafür bezahlen?).


3. Startle-The-Chicken-Pile


Clubhouse wählte eine andere Herangehensweise: Das soziale Netzwerk kündigte den Start groß an, gewann viele Promis, die Inhalte anboten und beschränkte den Zugang auf Einladungen. Clubhouse schürte die Erwartungen im Vorfeld und lockte so viele Teilnehmer auf einmal an. Bei dieser Strategie geht es also darum möglichst laut zu sein und „den Hühnerhaufen aufzuschrecken“, der Fokus liegt dabei weniger darauf, was auf der Plattform passiert, sondern vielmehr darauf möglichst viele Teilnehmer gleichzeitig anzulocken (Pull). Dieses Verhalten ist auch typisch für Hardware-intensive Plattformen wie Spielekonsolen, die zunächst Entwickler anlocken müssen, sodass beim Start genügend Spiele zur Verfügung stehen.


Keine One-Size-Fits-All Lösung


Eine genaue Beschreibung der vier Archetypen mit einer Vielzahl von Beispielen und Referenzen findet sich in unserem Forschungspapier. Eine weitere Auffälligkeit lässt sich bei all den untersuchten Beispielen finden: Alle genannten Plattformen mussten mehrere Anläufe unternehmen, scheiterten mehrfach fast und fanden doch eine Lösung für das Chicken-Egg-Problem. Es geht also nicht um die eine Taktik, es geht vielmehr um ein agiles/lean-startup-Mindset, das auf Hypothese-getriebenes Experimentieren aufbaut.***













*Pull, match, facilitate geht auf das Buch Platform Scale zurück

**Aktuelle Forschung Baccarrella und Rösch – work in progress

*** Mehr dazu und auch zum aktuellen Stand des Forschungspapiers gerne auf Anfrage.

 
 
 

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